«Eines gleich am Anfang», sagt der Selbstverteidigungstrainer vor einer Gruppe aller Altersstufen. «Denken Sie nicht, Sie seien unbezwingbar, wenn dieser Kurs fertig ist. Ein grosser, kräftiger Typ ist euch immer noch physisch überlegen. Und doch gibt es Chancen, denn Selbstverteidigung beginnt im Kopf.»

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«Es gibt Statistiken über Tätertypen, die zeigen dass ein grosser Teil aggressionsgehemmte Täter sind» führt der Trainer aus. «Dieser Typ sucht bevorzugt Opfer, die unsicher wirken, denn sie haben Angst und flüchten bei Gegenwehr.» Dabei sei es wichtig, nicht nach unten zu schauen: «Haltet den Kopf aufrecht. Mit einer aufrechten Haltung bewirkt ihr mehr als ihr denkt».

Täter wollen Opfer und keine Gegner

«Wehrt Euch richtig und nicht so zaghaft». Dabei sei nahezu alles erlaubt, der Einsatz des eigenen Körpers, der Einsatz jedes Gegenstandes, der einen Vorteil verschafft, so der Trainer. «Handtaschen, Kugelschreiber oder Schlüsselbund, setzten Sie ein, was greifbar ist und zeigen Sie keine Hemmungen. Rammen Sie den Kugelschreiber dorthin, wo er richtigen Schaden verursacht.» Die Gruppe wirkt irritiert. «So viel Gewalt, muss das wirklich sein?», fragt eine zierliche Frau. Die Antwort des Trainers mündet in einer Gegenfrage. «Was ist Ihnen lieber: Sie oder er?»

Sicherheit im Alltag durch Selbstverteidigung?

Mit einem sicheren Gefühl durch den Alltag: Im Karatetraining lernen wir, uns in konkreten Situationen effektiv und effizient zur Wehr zu setzen. Unser Training vermittelt Techniken zur Abwehr von Angriffen, einen respektvollen Umgang, lehrt eigene Grenzen zu erfahren und ein Körperbewusstsein aufzubauen. Dies unterstützt eine Veränderung im Umgang mit Konfliktsituationen auch wenn eine Auseinandersetzung mit kommunikativen oder psychischen Angriffen nicht Bestandteil des Trainings ist. So baut man Ängste ab, tankt Selbstbewusstsein und stärkt sein Auftreten.

Was ist Selbstverteidigung?

Selbstverteidigung dient der Vermeidung und Abwehr von Angriffen auf die Unversehrtheit einer Person. Dies ist das Recht einer jeder Person, in der Bundesverfassung steht unter Artikel 10 Absatz 2: «Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.»

«Grapscher müssen mit Schlägen rechnen»

Einen Pfefferspray einsetzen, mit der Faust zuschlagen oder beissen: wie kann und darf sich eine Frau wehren, wenn sie sexuell belästigt wird? Eine Schweizerin wehrte sich und brach dem Angreifer das Nasenbein als ein 20-Jähriger ihr an einer Silvesterfeier in Wien an den Hintern fasste. Der Schweizerin droht eine Geldstrafe von 150 Euro. Auch in der Schweiz dürfen Opfer von sexueller Belästigung nicht einfach zuschlagen.

«Gegenwehr muss verhältnismässig sein», sagt eine auf Opferhilfe spezialisierte Schweizer Rechtsanwältin. Der Begriff der Verhältnismässigkeit hänge von den Umständen des Einzelfalls ab und sei nicht definiert. Werde man an Po oder Busen betatscht und wehre sich mit einem Faustschlag, so werde eine Grenze überschritten. «Grundsätzlich sollte man sich vor zu viel Selbstjustiz hüten».

M.I. eine politisch aktive Anwältin findet hingegen: «Wer eine Frau betatscht, muss damit rechnen, dass sie sich auch mit einem Faustschlag wehrt.» Das seien selbstbestimmte Frauen, die sich so einen respektlosen Umgang nicht gefallen liessen. «Täter und Opfer werden hier verwechselt.» Fürchte eine Frau gar, vergewaltigt zu werden, und werde sie dabei gewürgt oder körperlich traktiert, solle sie sich auch richtig wehren können, ohne juristische Folgen fürchten zu müssen.

An Po oder Busen betatscht

«Wird man am Hintern oder am Busen betatscht oder fasst jemand einer Frau sogar in die Unterhose, darf sie in Form von Tätlichkeiten zurückgeben. Angebracht sind eine Ohrfeige, Schlagen mit der flachen Hand, Kratzen, ein Faustschlag auf den Körper oder das Einsetzen eines Pfeffersprays. Letzterer ist zwar schmerzhaft und bewirkt Augenrötungen, man kann damit aber keine Knochenbrechen. Mit einem Faustschlag ins Gesicht dagegen wird eine Grenze überschritten. Ein solcher Schlag kann schwere Verletzungen im Augen- und Nasenbereich zur Folge haben. Entsprechend droht eine Verurteilung wegen Körperverletzung. Der Richter kann aber aufgrund der Umstände die Strafe mildern.»

Eine drohende Vergewaltigung

«Droht eine Vergewaltigung, dürfen Betroffene mit viel mehr Gewalt agieren. Betroffene dürfen den Täter beissen, boxen, an den Haaren reissen oder ihm einen heftigen Tritt gegen die Geschlechtsteile verpassen. Auch ein Faustschlag ins Gesicht kann zulässig sein. Die Opfer müssen dem Richter dann allerdings auch plausibel erklären können, dass tatsächlich eine Vergewaltigung drohte. Nichtzulässig ist es, sich mit einem Messer zu wehren oder dem Täter etwa einen Schlüssel in die Augen zu rammen, sofern der Täter unbewaffnet ist. Ein Schlüssel gilt in diesem Fall als Waffe. Es wird eine Erblindung in Kauf genommen. Es würde sich um Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand handeln. Das Strafmass würde dann massiv höherausfallen.»

Und was sagt das Schweizer Gesetz zur Selbstverteidigung?

Artikel 15 StGB Rechtfertigende Notwehr: «Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht, so ist der Angegriffene und jeder andere berechtigt, den Angriff in einer den Umständen angemessenen Weise abzuwehren.»

Artikel 16 StGB Entschuldbare Notwehr: «Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr nach Artikel 15, so mildert das Gericht die Strafe. Überschreitet der Abwehrende die Grenzen der Notwehr in entschuldbarer Aufregung oder Bestürzung über den Angriff, so handelt er nicht schuldhaft.»

Die Fähigkeiten einer Person, die sich verteidigt, können bei einer gerichtlichen Beurteilung eine Rolle spielen. So kann man z.B. von einer Person, die über Jahre Kampfsport trainiert hat, einen «kühlen» Kopf und eine definierte Reaktion auf einen Angriff erwarten. Dies kann z.B. bei Fällen der möglichen Entschuldbaren Notwehr ein Entscheidungskriterium sein.

«Nach dem dritten Mal brach ich ihm die Nase»

K.G. wurde einmal im Club an den Hintern gefasst. «Ich stiess ihn heftig weg, schrie ihn an und schlug ihm den Drink aus der Hand.» Danach habe sie ihn bei der Security gemeldet. «Er wurde aus dem Club geschmissen.»

I.P.: «In einem Club betatschte mich ein Typ zweimal hintereinander. Ich sagte ihm: ‹Machst du das noch einmal, knalle ich dir eine.›» Er tat es wieder. «Da brach ich ihm die Nase.» Es sei zu einer Anzeige gekommen. «Er bekam eine Geldstrafe und drei Jahre Bewährung. Ich erhielt eine Geldstrafe plus zwei Jahre Bewährung.»

A.S. erzählt: «Ich wurde schon häufig belästigt, verbal und körperlich.» Nur einmal, als Gebrüll und Weglaufen keine Optionen gewesen seien, habe sie einem Grapscher einen Faustschlag verpasst. «Verletzt hat sich niemand von uns, ich bin nicht die Stärkste. Aber er war so perplex, dass ich dann weglaufen konnte.»

Besser ein Selbstverteidigungs-Kurs oder Karatetraining?

Kampfschulen bieten Selbstverteidigungskurse oft in Gruppen gerne als Wochenendseminaren oder 5 bis 6 Trainingseinheiten an. Manchmal findet man auch regelmässige Einheiten über ein paar Monate hinweg. Manche Kurse sind auch Frauen vorbehalten.

Trainer Roman meint: «Selbstverteidigung ist eine Lebenseinstellung. Viele Kursangebote geben  gerne das Versprechen, dass ein paar Stunden Übung genügen, um sich gegen einen echten Angriff wehren zu können. Das ist aber nicht realistisch. Manche verdienen an solchen Kursen zu viel Geld mit den Ängsten der Menschen.»

Für eine solide Basis muss man sein Können ständig prüfen und erweitern. Ein Angebot, das sich nur an Frauen richtet, kann man auch kritisch sehen. Wenn eine Frau einen Übergriff erlitten hat, dann sitzt das natürlich tief und die Hemmung mit einem Mann zu trainieren ist dann oft sehr gross. Ein nicht bewältigtes Trauma kann durch die Trainingserfahrung wieder aufbrechen.

«Aber dennoch denke ich, dass die Vorteile bei einem gemischten Training klar überwiegen» führt der Trainer seine Gedanken weiter. «Frauen können ihr Können an körperlich überlegenen Gegnern testen, lernen und verbessern.»